Polizei Dortmund unterlag im April vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen gegen antifaschistisches Bündnis. Das Urteil wirft Fragen für die juristische Grundlagen der momentanen Verweigerungshaltung bei der Bekanntgabe der Naziroute am 4.6. auf.
Am 19. April 2016 urteilte das Verwaltungsgericht (VG) in Gelsenkirchen nach fünfeinhalb Jahren zugunsten des damaligen Anmelders einer antifaschistischen Demonstration im Jahre 2010 wegen einer unrechtmäßigen Routenverlegung . Mit einer pauschalen Gefahrenprognose hatte die Polizei Dortmund dereinst erwirkt, die Demonstration des von Autonomen AntifaschistInnen organisierten Bündnisses „S4“ auf eine Route außerhalb der Innenstadt zu verlegen. In der Fortsetzungsfeststellungsklage stellte sich ihre Argumentation allerdings als substanzlos heraus. Weil ein würdiges Demonstrieren gegen den sogenannten „Antikriegstag“ des „Nationalen Widerstand Dortmund“ an Gedenkorten wie dem Platz der Alten Synagoge und dem Tatort des Mordes am Punk „Schmuddel“ an der Kampstraße unter den von der Polizei diktierten Umständen nicht möglich war [1,2], hatte das Bündnis seine Demonstration damals abgesagt.
Gefahrenprognosen müssen sich auf konkrete und nachweisbare Tatsachen berufen. Bloße Verdachtsmomente und Vermutungen reichen nicht aus. Das schien für das VG Gelsenkirchen neu zu sein. Im nach mehr als vier Jahren angesetzten Gerichtstermin im Februar 2015 wollte das Gericht zunächst sein Urteil nicht erneut beleuchten. Nachdem die bestehende Rechtslage zur Kenntnis gebracht wurde, verlangte das Gericht dann aber doch die Offenlegung der Einsatzplanung für den September 2010. Dem ist die Polizei Dortmund faktisch nicht nachgekommen: eine Mißachtung des Gerichts, die eigentlich zur Beschlagnahmung der Akten hätte führen müssen. Immerhin wurde auch aufgrund der Verweigerung der Polizei Dortmund, tragfähige Belege für ihre Gefahrenprognose zu liefern, das Verfahren zugunsten des Anmelders des S4-Bündnisses entschieden.
Im Ergebnis hat das Gericht also festgestellt, dass das Vorgehen der Polizei Dortmund, die S4-Demo mit dem Mittel der polizeilichen Auflagenverfügung aus der Innenstadt verdrängen und ihr so die gewünschte Öffentlichkeitswirkung nehmen zu wollen, rechtswidrig war. Die Polizei Dortmund musste vom VG Gelsenkirchen daran erinnert werden, dass Auflagen nicht dazu da sind, Demonstrationsziele faktisch zu vereiteln, sondern sie zu ermöglichen. Offenbar hatte die Polizei Dortmund ersteres im Sinn:
„Mit dem Urteil hat sich einmal mehr gezeigt, dass die Polizei Dortmund das Instrumentarium der sogenannten Gefahrenprognose dazu einsetzt, um nach Gutdünken in fundamentale Grundrechte einzugreifen. Beim Eilverfahren wurde 2010 damit eine Routenverlegung durchzugeboxt, die einem Demonstrationsverbot gleichkam. Entweder hat die Polizei im Verfahren gelogen oder verschweigt bis heute die Grundlagen der damaligen Gefahrenprognose. Das rechtswidrige Vorgehen wurde in diesem Fall erst nach über fünf Jahren festgestellt.“
Die Ausdauer bei der juristischen Auseinandersetzung hat sich gelohnt, denn das Urteil hat grundsätzlichen Charakter für Dortmund und durch die geänderte Rechtsauffassung des VG Gelsenkirchen auch über Dortmund hinaus. Die Polizei Dortmund kann nun nicht mehr – wie es anscheinend jahrelange Praxis war – mit Behauptungen und Unterstellungen im Rahmen des Allheilmittels „Gefahrenprognose“ willkürliche Beschränkungen verfügen. Dem Urteil vom 19. April 2016 ist zu entnehmen:
„Vielmehr sind als Grundlage der Gefahrenprognose konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte erforderlich; bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen hierzu reichen nicht aus. Vgl. Trier, Urteil vom 20.01.2015 – 1 K 1811/14.TR –, bei juris unter Verweis auf BVerfG, Beschluss am 14. Mai 1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81 –, BVerfGE 69, 315-372, Rn. 80, juris; vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2012 – 1 BvR 2794/10 –, juris, Rn. 17 m.w.N).“
Das Urteil hat Relevanz für die momentane Nachrichtensperre der Polizei Dortmund: Auch jetzt verweigert sie die Bekanntmachung der Route des Naziaufmarsches am 4. Juni mit der pauschalen Aussage, die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht gefährden zu wollen. Hier wäre zu prüfen, ob sie nicht in einer einseitigen Rechtsgüterabwägung die Grundrechte von JournalistInnen und AnwohnerInnen beschneidet. Sieht die Polizei Dortmund die öffentliche Sicherheit vielleicht mittels einer erneuten unkonkreten Gefahrenprognose in Gefahr, um aus taktischen Erwägungen die Demonstrationsroute geheimzuhalten?
In Dortmund kam es in den letzten fünf Jahren zu einer Vielzahl an weiteren, unbegründbaren Einschränkungen antifaschisticher Demonstrationen seitens der Polizei. Seit diese im Laufe des Verfahrens vom VG Gelsenkirchen darauf hingewiesen wurde, Behauptungen in Zukunft auch begründen zu müssen, konnte in einem Fall eine Anpassung der Polizeitaktik festgestellt werden: Bei der 10-jährigen Gedenkdemo zum Mord am Punk „Schmuddel“ hat die Polizei Dortmund Abstand davon genommen, gerichtsfest zu verfügen und damit die Route der antifaschistischen Demonstration durch Dorstfeld zu verbieten, denn dies wäre rasch als rechtwidrig erkannt worden. Stattdessen erfolgte die unrechtmäßige Verfügung in Form einer Routenverkürzung dann auf der Straße: Während der Demonstration wurde der Weg zum Wilhelmsplatz mit Spezialeinheiten zugestellt und der Einsatzleiter strich in der Auflagenverfügung kurzerhand den zuvor problemlos kooperierten Weg über Dorstfeld; frei nach dem Motto: Kann ich das Spiel regulär nicht gewinnen, spiele ich einfach mit falschen Karten.
„Es ist nicht hinzunehmen, dass die Polizei durch perfide Tricks und vorsätzliche Winkelzüge eine Hürde bei der Ausübung von Grundrechten errichtet.“
Es ist nicht akzeptabel, dass juristische Laien und ökonomisch schwache Organisationen ohne Rechtsabteilung mit Einschränkungen ihrer Grundrechte gegängelt werden. Wir fordern alle Betroffenen auf, sich gegen Auflagenbescheide der Polizei juristisch zu wehren und bei Einschränkungen auf der Straße Dienstaufsichtbeschwerde zu stellen und bei offensichtlichen Rechtsverstößen die beteiligten BeamtInnen zum Remonstrieren aufzufordern.
Naivität liegt uns fern, weshalb wir weiter davon ausgehen, dass die Polizei Dortmund auch in Zukunft Material für die Theatergruppe „Mein Einsatzleiter“ liefern wird.
Arbeitskreis NoTddz Dortmund, 30. Mai 2016
Zusammen organisieren, sabotieren, blockieren, verhindern!
Zusammen organisieren, inquirieren, recherchieren, prozessieren!
[1] http://s4.blogsport.de/2010/08/19/recht-auf-innenstadt/
[2] http://s4.blogsport.de/2010/09/03/s4-buendnis-sagt-demonstration-am-samstag-4-9-ab/